Können Mütter kluge Dinge denken?

Meine Elternzeit ist fast zweieinhalb Jahre her. Ich hatte damals gedacht, dass der Wiedereinstieg schwer werden würde und dass es dann leichter wird. Aber ich sehe häufig, dass das Gegenteil der Fall ist. Kurz nach der Elternzeit fühlt sich alles stark und frei an. Aber irgendwann merken wir: Wir werden anders wahrgenommen. Darum geht es in der heutigen Folge RUSH HOUR.

Vervollständigt Mutterschaft das Leben? Nein, sollte die Antwort auf diese Frage modernerweise lauten. Wann ist ein Leben schon vollständig?, diese Frage ist ein Teil der Wahrheit. Der andere ist: Wir haben Mutterschaft so lange zur Abwertung des Frauenlebens verwendet, dass wir eher das Gefühl haben, uns würde etwas entrissen. Wir glauben die Geschichte, die uns erzählt wird.

Und doch ist das Elternwerden eine Erfahrung, die durch nichts zu ersetzen ist. Und die etwas verändert. Uns. Uns Frauen, die Männer und alle, die diese Erfahrung machen. Mutterschaft als intellektuellen Verhinderungsgrund zu sehen war einfach. Diese Ansicht stärkte Männer gegenüber Frauen und kinderlose gegenüber Müttern. 

Und doch habe ich in jüngster Zeit einige Bücher weglegen müssen, weil sie mir unreif vorkamen. Und, ich wage den folgenden Begriff im vollen Wissen, dass er zu Hass führen wird: unvollständig. Unvollständig in der Argumentation, unvollständig in ihren Erzählungen, unvollständig schon in der Perspektive. Das ist grundsätzlich nicht schlimm, weil sie eben für eine spezielle Zielgruppe geschrieben sind: junge Frauen. Frauen, die sich gegen Kinder entschieden haben. 

Doch Mainstream können Bücher nicht sein, wenn sie die Perspektive der Mütter und Eltern nicht einschließen. Denn Eltern sind Mainstream. Ihre Perspektive nicht einmal im Subtext mitzudenken, bedeutet, dass hier etwas fehlt.

Das ist interessant. Ich mag diese Ansicht nicht, weil ich in diesem Moment zugeben muss, dass meinen ersten beiden Büchern etwas fehlt. Es fehlt die Perspektive von mir als Frau, die wie 80 Prozent der anderen Frauen ein Kind bekommen hat und mit diesem Kind ihr Leben lebt. Mit den Herausforderungen, die das mit sich bringt, aber eben auch mit der intellektuellen Ausweitung. 

Beide Bücher sind in ihren Ideen neutral, sie sind auch neutral in der Wissenschaft, von der sie erzählen. Aber die Erzählungen? Es sind die Erzählungen einer Frau Anfang 30 und in dieser Lebenswirklichkeit bewegen sie sich. Und so müssen sie unvollständig sein. Das Unbekannte wird übersehen.

Ich liebe meine ersten Bücher und deshalb hasse ich diese Gedanken. Aber ich bin damals nicht fertig geworden, weil ich nicht fertig werden konnte.

Würde ich sie heute schreiben, würde ich in zehn Jahren noch einmal das Gleiche beklagen. Weil wir als Menschen niemals fertig sind. Das ist sowieso eine der Grundideen des Buches »Wie gut soll ich denn noch werden« über Selbstoptimierung. Und es ist eine der Regeln des Lebens, sozial, psychologisch, wirtschaftlich und sogar neurologisch. Wir gehen weiter. Wir wachsen.

Doch dieses Wachstum wird Müttern abgesprochen. Sie gelten als geschrumpft. Sie wehren sich gegen dieses Narrativ, aber sie fangen auch an, es zu glauben. Ich habe sechs Thesen dazu.

1. Mütter werden als unfrei definiert.

Ein Kind zu bekommen ist ein Pfad, es zu lassen ein anderer. Es zu lassen wurde für selbstbestimmt lebende Frauen als der Weg der Königinnen angesehen, in der Kunst, in der Wirtschaft, in Wissenschaft und Lehre. Sie wählten die Freiheit abseits von Mann und Kind, was jedem Menschen freisteht. Aber daraus entstand das Narrativ, dass es keine Freiheit, keine Selbstbestimmung und damit auch keine Stimme für jene Frauen gibt, die anders wählen.

Diese Wahrnehmung als unfrei führt sofort dazu, dass Mütter als weniger kompetent wahrgenommen werden. 

2. Menschen hassen Mütter. Bleib einen Moment hier, es stimmt wirklich.

In einer Welt, in der alle Perspektiven mitgedacht werden sollen, gilt die der Mutter noch immer als Unfall. Selbstaufgabe in Zeitlupe, neun Monate und dann für immer. Oft wird gesagt, das liege daran, dass unsere Mütter keine guten Vorbilder waren. Ich würde sagen: Das Gegenteil ist wahr. Unsere Mütter lebten in ihrer Zeit wie wir in unserer. Sie kämpften. Und oft haben sie verloren. 

Vor allem verloren sie ihre Töchter und Söhne. Sie verloren uns an eine Gesellschaft, die die Mutter abwertet als schlechtes Vorbild, als Element, das Druck aufbaut, Hass säht und Selbsthass. »Die narzisstische Mutter« ist ein häufiges Motiv des Erwachsenwerdens – und ich möchte nicht anzweifeln, dass dieses Krankheitsbild real ist, prägend und zerstörerisch.

Aber nicht alle sind krank. Manche sind Menschen ihrer Zeit und Geschöpfe gesellschaftlicher Strukturen. Mütter waren Mädchen, denen Gehorsam beigebracht wurde. Mütter waren Teenager, die Ziele und Ideale hatten. Mütter wurden Frauen, die in ein starkes, selbstbestimmtes Leben starteten, die aber nicht wegkamen vom Ideal, es an der Seite eines Mannes zu verbringen und sich seiner – ebenfalls anerzogenen – Stärke unterzuordnen. Diese Frauen wurden Mütter. 

Was sie vorher waren, wurde von der Gesellschaft wegdefiniert. Dieser Konflikt besteht für Mütter wie für jene, die es nicht sind oder noch nicht sind: Die Mutter beendet ihr Leben und existiert als Dienerin einer Familie. Das macht Angst.

Und wenn wir nicht aufhören, Mütter zu hassen und uns selbst als Mütter zu hassen, dann wird sich das nicht ändern. 

3. Mütter müssen scheitern

Wer sich nicht aufgibt, steht unter dem Druck, allem gerecht zu werden. Unter 100 Prozent ist gleichbedeutend mit Scheitern. Und wer scheitert, der bestätigt das Patriarchat. Nie waren ungeputzte Kinderzähne so politisch wie heute.

Die Schwangere ist schön, Haut und Haare erstrahlen normschön. Die Mutter ist hässlich: Viele Haare fallen aus und jeder Augenring, jede angefettete Strähne ist ein Zeichen ihres Versagens. Was nur anderthalb Jahre zuvor das Zeichen eines wilden, also respektablen Lebens war, ist ein weiteres Zeichen der Unvollständigkeit. Milchflecken sorgen für den Ekelfaktor im Alltäglichen und die Selbstironie der Eltern ist die Verneigung vor den Herablassungen der anderen. Ich bin reduziert. Ich akzeptiere meinen Niedergang.

Diese Erfahrung quält. Mutterschaft reißt Frauen nicht nur aus der Selbstbestimmung heraus, sondern auch aus der anerkannten Kompetenz, selbst zu werten. Ich kann stolz sein, weil ich in einer schlaflosen Nacht nicht ausgerastet bin. Und doch ernte ich Mitgefühl und Respekt. 

Dieses Mitgefühl will ich nicht haben, denn ich bin nicht gescheitert. Ich bin über mich hinausgewachsen. Und der Respekt, den Menschen ohne Kinder Eltern erweisen, ist ein abwertender. »Ich habe größten Respekt vor euch Eltern«, sagen sie, und lassen mitschwingen, dass wir uns das Leben versaut haben. Diese Art von Respekt ist das Gift, das in einer angeschlagenen Mutterrolle den Rest gibt. 

Für jene, die Mitgefühl und Respekt aussprechen, ist dieses Gift das Schmiermittel ihrer Selbstdefinition: Sie sind besser als das, sie haben ihre Freiheit behalten, ihre Leistungsfähigkeit. Und damit ihr Recht auf eine Stimme. Die Mutter muss schweigen oder darf bestenfalls für ihre eigene Gruppe sprechen – die anderen Mütter. So führt das kleine Scheitern ins große, denn die Mutter wird im Diskurs aller Dinge nicht mehr angenommen. Sie soll sich auf ihre Expertinnenposition zurückziehen: Kind, Haushalt, Überforderung. 

4. Eltern sind die Mehrheit, die zur marginalisierten Gruppe gemacht werden.

Etwa 80 Prozent der Frauen bekommen irgendwann ein Kind. In 30 Jahren wird diese Zahl niedriger sein, das stimmt. Aber noch immer sind es ziemlich viele. Und trotzdem tun wir so, als sei die Elternschaft ein Störfaktor. Eltern sollen Dinge möglich machen.

Wer Bedürfnisse ausspricht, erkennt deshalb an, im Privaten gescheitert zu sein und diese Last in den Beruf zu tragen. Diese Wahrnehmung führt dazu, dass viele Eltern ihre Familien in ihrem Arbeitstagesablauf verstecken. Das kann nicht gelingen. In einer Welt, in der Unternehmensinteressen Vorrang vor dem Leben haben, müssen Eltern an den Rand gedrängt werden. Wer darüber hinausdenkt, gilt als progressiv, geradezu mutig.

Aber wenn 80 Prozent der Menschen irgendwann Eltern werden, dann sollten wir anerkennen, dass wir es hier nicht gerade mit einer nervigen Randgruppe zu tun haben.

5. Das Narrativ des Elends rechtfertigt es, Eltern allein zu lassen

Mutterschaft ist in den allermeisten Fällen frei gewählt. Wir können von Sozialisierung sprechen, von der selbsterfüllenden Vorhersage, eine Uhr würde zu ticken beginnen, von Druck. Aber dies ist das Jahr 2023. Wir können uns nicht herausreden. Die meisten von uns haben gewählt. 

Diese Wahl wird benutzt, um unhaltbare Zustände zu rechtfertigen. Mütter, die in Firmen diskriminiert werden, die haben sich eben so entschieden. Mütter, die von ihren Partnern gezwungen werden, sich und ihr Leben zu vernachlässigen, die haben falsch gewählt. Mütter, die eine schlechte Nacht hatten oder drei oder vier, die haben dieses Leben gewählt und damit die Unfähigkeit, in der Welt der Handelnden und Sprechenden zu handeln und zu sprechen. Unhaltbare Zustände machen Väter zu Helden und Mütter zu kleinen Dummerchen.

Das Leid der Elternschaft ist so allgegenwärtig in unserer Gesellschaft, dass wir es als Normalzustand akzeptieren. Hilfe wäre schön, ist aber in Großstädten nicht mehr vorgesehen. Die Familien der Zugezogenen sind weit weg – und die jungen Eltern so privilegiert, die sollen sich mal nicht so anstellen, früher war alles zwar besser, aber eben auch viel schlimmer und härter.

6. Du sollst nicht genießen

Dass wir das schwer Erträgliche als Teil der Elternschaft definieren, macht Gespräche schwierig. Ich habe meine Gespräche beobachtet, meine Freundinnen gefragt. Wir alle tun das Gleiche: Wir sagen etwas, das schön war. Dann schränken wir es ein. Ich bin so stolz, dass meine Tochter Freude an Sport und Bewegung hat. Aber ähmjanaja, Trotzphase und so. Ich bin so froh, dass wir uns als Paar regelmäßig Zeit für Ausflüge nehmen. Geht natürlich nur, weil meine Eltern uns unterstützen – und die Fahrten sind echt weit. Und hart. 

Ich habe die Fähigkeit verloren, etwas Gutes zu sagen und stehenzulassen. 

Diese toxische Negativität ist Teil der Mutterrolle: Sag mir, was heute schön war und ich sage dir, wie privilegiert du bist. Erwähne ich beiläufig, dass ich mein Leben mag, dann bin ich eine Ausnahme. Und natürlich: Privilegiert. Krankheit und Erschöpfung haben meine Familie in ein eine Gleichberechtigung hineingezwungen, die viele Paare anstreben und die oft nicht gelingt. Das ist das Privileg meines Lebens. Und doch soll ich dankbar sein, »Hilfe« zu bekommen.

Ich darf nicht genießen. Und wenn, dann nur mit einem weinenden Auge, weil Bindehautentzündung.

7. Nur der Respekt wird uns retten

Wie alle werdenden Mütter hatte ich viele Ideen dazu, wie ich sein wollte. Ich las viel, dabei waren einige wirklich großartige Bücher. Ich bewaffnete mich mit den Geschichten, Ideen und Erfahrungen anderer Mütter, aber auch mit denen von Hebammen, Wissenschaftlerinnen, Kinderärztinnen und Kinderärzten. Ja, ich habe wirklich viel gelesen.

Nirgends las ich etwas von Respekt. Vermutlich, weil ich die entscheidenden Bücher nicht gelesen habe, denn der Respekt dem Kind und dem Ich gegenüber ist als Gedanke nicht SO bahnbrechend. Und doch ist er wichtig. Ich halte ihn für entscheidend.

Das Kind ist eine Person. 

Es ist ein Teil deiner Familie. 

Es wird Bedürfnisse haben.

Diese Bedürfnisse kann es nicht selbst erfüllen, also machst du das.

Du bist nicht allein verantwortlich und nicht allein zuständig, also forderst du Gemeinsamkeit ein. Und du gehst stur davon aus, dass dein Partner oder deine Partnerin das auch so sieht. Fake it till you believe it.

Die kleine Person entwickelt eine Persönlichkeit.

Das Kind wird eine Meinung haben. Es wird wütend sein. 

Aber es ist ein Teil der Familie. Es darf mitreden.

Du respektierst.

Dich, das Kind, die anderen in deiner Familie.

Dieser Respekt macht Elternschaft leichter. Er hilft nicht, wenn die Nächte kurz sind und die Tage lang. Er hilft nicht gegen Schmerzen in den Brüsten, Einsamkeit, Ungerechtigkeit. In allem, was über Elternschaft gesagt und geschrieben wurde, liegt eine lange Liste von Bereichen, in denen es nicht hilfreich ist.

Aber Respekt hilft, harten Zeiten einen Sinn zuzusprechen. Ich respektiere mich als Autorin, deshalb schreibe ich diese Worte, obwohl es mir heute körperlich wie geistig schlecht geht. Ich respektiere mich auch als Autorin für Medien und ich respektiere jene, die mir Aufträge geben. Deshalb strenge ich mich an, gut zu arbeiten, auch wenn das Thema einmal nicht meins ist. Ich respektiere meine Tochter. Deshalb bleibe ich bei ihr, wenn sie Albträume hat, auch wenn es mich die Nacht kostet und damit manchmal den folgenden Tag. 

Liebe ohne Respekt ist haltlos. Wir verlieren uns selbst darin, wie in einer Schwärmerei. Aber sie hält nichts aus. Wir müssen uns selbst belügen und weil wir das merken, entsteht dieser Hass, diese innere Dissonanz, die uns jene Mütter sein lässt, die wir nie sein wollten: Weg von den Frauen, die wir waren, hin zur Dienerschaft, einem Leben als Nebenrolle. Selbstliebe ist etwas abgegriffen, aber egal, wie du dazu stehst: Ohne Respekt vor anderen und ohne Respekt vor dir selbst, kannst du das mit der Selbstliebe komplett vergessen. 

Kompetent, vollständig, umsichtig

Der Respekt vor dem eigenen Lebensmodell ist es am Ende auch, der uns Eltern erlaubt, unsere Version von Kompetenz, Vollständigkeit und Umsichtigkeit anzuerkennen. Die Perspektive der Mutter, in langsam mehr werdenden Fällen auch die des Vaters ist eine, die stark ist. Wir blicken als Eltern weiter und umfassender, als wir es vorher taten. Das hebt uns nicht über Kinderlose, aber es unterscheidet uns von ihnen. 

Und während wir auf die Mutterschaft reduziert werden, auf dieses eine Thema, während man uns suggeriert, wir seien nicht mehr leistungsfähig und könnten keine Gedanken zu Ende bringen, währenddessen haben wir doch das, was wir anders nicht erlangen können: einen Blick auf die Welt, der die Fortpflanzung mit einschließt, den Blick der Kinder, der Jugend, den Blick in die Zukunft und den Blick auf etwas, das – wie gesagt – 80 Prozent der Frauen irgendwann erleben. Dies kleinzureden war eine Waffe der Männer gegen Frauen. Es wurde zur Waffe von Kinderlosen gegen Mütter. Aber akzeptieren müssen wir die Verletzungen nicht, die diese Waffe uns zufügt.

Wir können noch immer selbst definieren, wann wir gut sind und wann klug, widerstandsfähig, sogar leistungsfähig. Wir sind nicht eingeschränkt.

Wir sind weit. Wir sind offen für die Welt. Das kann jeder Mensch sein. Aber niemandem, der nicht Elternteil ist, steht die Perspektive von Eltern zur Verfügung.

Wenn du gerade in der Elternzeit bist, dann schau dir doch mal mein »Eltern Zeit Buch« an.

Wenn dir diese Folge gefallen hat, such dir mal meine Episode »Elternsein und Kreativität« heraus, es ist Nummer 56. Darin erzähle ich von meinem komplizierten Verhältnis zur Kunst. Es änderte sich, als ich ein Kind bekam und – dem Mainstream-Narrativ entgegen – in mir mehr Freiheiten entdeckte.

Mach es gut. Und bis bald


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