Die Welt ist so laut, man versteht seine eigenen Gedanken nicht mehr. Die Welt ist so bunt, so grell, so glatt und perfekt, dass die Selbstwahrnehmung grau verblasst. Und während die Menschen auf ihre Idole geschaut, ihren Weisheiten gelauscht und ihre Bilder geherzt haben, haben sie verlernt, sich selbst zuzuhören.
Aber Individualität bedeutet nicht, schneller zu sein, Trends zu setzen oder ihnen sauber kuratiert nachzulaufen. Bei sich selbst zu sein bedeutet, auch mal zu schweigen. Die Augen zu schließen. Und sich zu trauen, einen Moment ganz nur bei sich zu sein. Wie wir dazu zurückfinden, uns selbst zu fühlen? Mehr als eine Ahnung habe ich auch nicht. Von dieser Ahnung erzähle ich in der neuen Folge RUSH HOUR.
In ganz vielen von uns steckt eine kleine Version unserer selbst, brüllt, hüpft, winkt uns, hat etwas zu sagen. Aber sie wird nicht gehört. Oder diese kleine innere Version unserer selbst wird gehört – aber für unvernünftig befunden. Ihr wird die Kompetenz abgesprochen, Probleme zu lösen, Situationen zu bewerten, das Verhalten anderer einzuschätzen oder das eigene Verhalten zu steuern.
Das sollen andere richten. Andere, die es besser wissen, in Büchern, in Podcasts, auf quadratischen kleinen Spruchkarten bei Instagram. Und dann sitzen die Menschen da, haben schöne Aha-Momente, streichen kluge Sätze an oder machen Fotos von halben Seiten, die sie dann an ihre Freundinnen und Freunde schicken. Das liegt natürlich daran, dass diese Worte wirklich gut sind. Dass die Erkenntnisse wirklich gut sind. Dass die Expertinnen und Experten wirklich Ahnung haben.
Und doch kann sich nichts ändern, weil da immer noch diese kleine Mini-Version von uns ist, die eigentlich gern selbst entscheiden würde, wo es langgeht. Sie ist es, der wir zuhören müssen. Sie ist es, die uns am besten kennt.
Wer wirklich selbstbestimmt leben will, der sollte aufhören, den eigenen Lebensweg von anderen steuern zu lassen. Und damit meine ich weder Gesetze noch sinnvolle gesellschaftliche Normen. Ich meine Gefühle. Ich meine Bewertungskriterien. Ich meine Urteile. Ich meine Entscheidungen, die das Innenleben eines Menschen betreffen.
Um frei zu leben, müssen wir uns selbst gut kennenlernen. Und das ist ein harter Weg. Einer, der wehtun kann. Aber auch einer, der uns stärker macht. Aber es bedeutet, die Selbstwahrnehmung von den Normen der Gesellschaft zu trennen, von unseren Erwartungen an das, was wir erwarten, dass andere es von uns erwarten.
Ich kann das Ende schon vorwegnehmen: Am Ende des Weges steht nicht die ewige Glückseligkeit. So funktionieren Menschen nicht. Klarheit bedeutet nicht, dass danach nie wieder eine Wolke aufzieht. Selbsterkenntnis bedeutet nicht, dass man sich selbst danach nie wieder aus dem Blick verliert. Es wird keine Lösung geben, die für immer hält. Selbstfühlung bedeutet, sich selbst im Wandel zu erleben. Und zwar für den ganzen Rest des Lebens.
Jetzt kannst du enttäuscht abschalten und dir eine Expertin suchen, die genau das verspricht.
Oder du bleibst hier. Und lässt dich auf eine andere Möglichkeit ein: Nämlich darauf, dass du keine Lösung für immer brauchst. Dass es reicht, eine Mischung aus innerer Stärke und Flexibilität zu schaffen, um auch dann im Leben zu bestehen, wenn es nicht so gut läuft.
Wir müssen uns selbst besser kennenlernen
Diese Grundlage für diese Mischung aus Stärke und Flexibilität ist es, die jedem Menschen hilft, sich selbst kennenzulernen. Und zwar immer wieder neu.
Eine Zeit lang nannte man das Selbstfindung, aber der Begriff ist schräg. Es gibt nichts zu finden. Du selbst bist ja schon da. Ich bin auch da, ich habe eben noch kurz nachgeschaut. Wir müssen uns nicht suchen. Menschen haben das Gefühl, sich selbst nicht zu kennen, weil es manchmal so schwerfällt, dem eigenen Wandel hinterherzukommen.
Und Menschen haben alle nicht gelernt, auf sich selbst zu achten. Das ist das eigentliche Problem. Diese Selbstfühlung muss normal werden, sich ganz natürlich anfühlen – und richtig. Ich habe einige Ideen, wie das gelingen kann. Nicht jede wird für dich funktionieren. Aber vielleicht schaust du mal, was du daraus mitnehmen kannst, um etwas mehr bei dir selbst anzukommen.
Die folgenden Ideen sind dazu da, urmenschliches Verhalten zu unterdrücken. Fast alle Menschen streben danach, zu gefallen. Sie tun es, um Gruppen zu finden, die sie schützen. Das ist natürliches und gesundes Verhalten: Wer früher allein war, hatte nur geringe Überlebenschancen. Das galt im urzeitlichen Dschungel. Aber heute, in Social Media, ist es auch nicht anders.
Doch dieses Verhalten trennt uns von unseren inneren Bedürfnissen. Und für diese haben wir in der modernen Welt Raum geschaffen. Wir dürfen es uns erlauben, uns stärker in uns selbst zu zentrieren.
Also – fünf Ideen dazu.
- Du musst deine Kompetenz akzeptieren.
Egal, was dich emotional gerade quält: Niemand kann es so gut beurteilen wie du selbst. Diese Tatsache ist für die meisten persönlichen Angelegenheiten unwiderlegbar. Und doch widerspricht sie dem inneren Gefühl. Menschen wollen Rat. Menschen suchen Perspektiven. Manchmal wollen wir auch einfach nur reden und während wir das tun, sortieren sich die Gedanken. Das ist gut, birgt aber ein Problem: Wir sortieren die Gedanken immer so, wie wir sie im Gespräch reflektiert sehen.
Ich erkläre das an einem Beispiel. Stell dir vor, du hast ein Problem mit einem Date oder einem Partner. Du erzählst es der Freundin, die gerade eine Krise in ihrer Beziehung hat, von der du aber noch nichts weißt. Sie spiegelt dein Erlebnis eher kritisch, vorsichtig. Warnend. Dann erzählst du es der Freundin, die schon viel über die Liebe gelesen hat und die gerade in einer Phase ist, die sehr auf Erhaltung und Wachstum in der Beziehung zielt. Sie spiegelt dein Problem konstruktiver und optimistischer. Und dann erzählst du es deiner älteren Freundin, die viel Erfahrung hat und immer einen guten Rat ausspricht – aber die vielleicht auf eine Art sozialisiert wurde, die deinen inneren Werten nicht entspricht.
Nun hast du deine Geschichte dreimal erzählt, dir dreimal eine Meinung gebildet. Alle Gespräche haben sich gut angefühlt. Wie eine tolle Lösung. Aber alle Gespräche waren gefiltert.
Ich halte Austausch für wichtig, ich halte Gespräche für wichtig. Aber wer bei sich selbst ankommen will, der sollte nicht zu viel Gewicht in das legen, was andere sagen, fragen, spiegeln.
Gute Freundinnen und Freunde müssen alle Menschen irgendwann auch in sich selbst finden. Nicht als Ersatz für jene von außen. Aber als wertvolle Ergänzung. Als erste und letzte Anlaufstelle in allen Lagen des Lebens. Denn niemand sonst wird jemals einen direkteren und vollständigeren Einblick in deine Gefühle haben als du selbst. Niemand sonst teilt all deine Erfahrungen mit dir. Niemand sonst weiß so genau, wo deine Grenzen liegen, welche Werte dir wichtig sind und was sie dir im Detail bedeuten.
Niemand kennt dich so gut, wie du dich selbst kennst. Deshalb wird niemand jemals so kompetent sein, deine Probleme zu lösen wie du selbst. Und genau diese Verantwortung müssen wir übernehmen, wenn wir selbstbestimmt und unabhängig leben wollen. Das ist Selbstverantwortung.
Selbstverantwortung und die Anerkennung der eigenen Kompetenz bedeuten nicht, dass wir aufhören sollten, zu reden. Im Gegenteil. Wir müssen reden. Wir müssen uns austauschen. Damit wir erkennen, dass wir nicht allein sind mit unseren Erfahrungen. Damit wir weiterhin aufschreien können, wenn Probleme ein System haben, eine gesellschaftliche Dimension. Nur so können wir Ungerechtigkeit bekämpfen.
Aber an dieser Stelle müssen wir sauber die Ebenen trennen: Es gibt die Gesellschaft. Und es gibt das Ich. Über die Probleme der Gesellschaft grübeln wir im Stillen und dann lösen wir sie gemeinsam. Über die Sorgen des Ichs diskutieren wir mit anderen. Aber lösen können wir sie immer nur allein. Diese Erkenntnis ist wichtig, wenn du dich selbst kennenlernen willst. Erst wenn du dein Innerstes als kompetent und relevant einstufst, wirst du mit allen Sinnen auf dich selbst achten.
2. Du darfst deine eigene Blase sein.
Was wir für normal und richtig halten, formen wir anhand der Dinge, die wir erleben. Dazu gehören eigene Erfahrungen – dazu gehören aber auch die Reaktionen anderer. Das ist in der modernen Welt ein Problem, weil wir immer homogener denken. Das fühlt sich zunächst einmal angenehm an – Menschen, deren Haltung mir unangenehm ist, blende ich aus. So schützen wir uns selbst vor zu viel, zu pluralistischen Input. Menschen wollen sich nicht ständig aufregen. Das ist vielleicht nicht ideal, aber individuell betrachtet sehr verständlich.
Gerade im Internet schaffen sich Menschen so ihre Blasen. Sie sind umgeben von anderen, die ähnlich denken wie sie.
Und das ist leider nicht annähernd so bequem, wie es sich anfühlt.
Ich erkläre das mal von Anfang an:
Als Kinder wurden wir mit anderen zusammengeworfen und dann fanden wir unsere Plätze in diesen Gruppen. Für einige Menschen war das schwierig. Für mich war es lange Jahre lang sogar ziemlich furchtbar. Vermutlich geht es vielen anderen auch so: Wir wussten nicht, dass Introversion existiert und ganz normal und gesund ist. Also wollten wir nur so sein wie alle anderen.
Je älter wir werden, desto mehr können wir uns die Menschen aussuchen, mit denen wir uns umgeben. Nicht unbedingt im Beruf, aber immerhin im Privatleben. Wir haben Einfluss darauf, wer Einfluss auf uns haben kann. Nur nutzen wir diesen Einfluss falsch.
Menschen wollen gesehen werden. Gehört. Sie wollen wertgeschätzt werden. Sie wollen ihrem Umfeld vertrauen und sich sicher genug fühlen, um sich frei auszudrücken. Diese Sicherheit suchen wir unter Menschen, die uns ähneln.
Und genau an dieser Stelle laufen wir alle vor eine Wand. Denn homogene Gruppen sind keine sicheren Orte. Sie sind nicht tolerant. Sie erlauben keine Resonanz. Homogene Gruppen, wie es die Blasen und Echokammern des Internets sind, reagieren extrem empfindlich auf abweichende Meinungen – und auf Fehler. Oder Handlungen und Aussagen, die als Fehler wahrgenommen werden. Egal, wie klug und aufgeklärt eine Gruppe wirkt, wird sie doch in der Rückschau betrachtet immer den blinden Flecken ihrer Zeit unterliegen. Die eigene Aufgeklärtheit hat zu einem Gefühl des Wissens geführt, das so stark ist, dass es starr wird. Und damit die Zeit der Aufklärung zu einem abrupten Ende führt. Weiterdenken? Wo denkst du hin?
In einer Blase kommunizieren Menschen also entweder sicher – dann sind sie aber nicht frei. Neue Gedanken zu entwickeln ist grundsätzlich weiterhin möglich. Populäre Meinungen infrage zu stellen wird aber schwer sein. Offene Debatten sind schwierig, wenn es einen Block gibt, der seine – selbst konstruierte – Version der Wahrheit schützt und dabei geschlossen steht. Wer umgekehrt frei kommuniziert, kann daher nicht sicher sein.
Eine Abkehr von den Blasen ist schwierig. Heterogene Gruppen sind ja leider schwer zusammen zu stellen. Dabei wissen wir aus der Forschungsarbeit von Thomas Pettigrew oder Gordon Allport, dass das, was uns am offensten macht, Kontakt ist. Kontakt zu Menschen, die wir für anders halten. Diversität. Aber Diversität im Privaten ist schwer herzustellen, wenn es um Gedankengut geht, um die grundsätzliche Idee vom Leben.
Für mich liegt eine der Antworten eher darin, sich selbst so weit zu stärken, dass wir abweichende Meinungen besser aushalten können. Dann können wir auch dahin gelangen, wieder Freundschaft mit Menschen zu schließen, die anders ticken.
Also sei deine eigene Blase. Wenn du selbst – vor dir selbst – in dir – deine eigene Position vertreten und begründen kannst, dann wird es dir leichter fallen, zu akzeptieren, dass andere Menschen das auch für sich selbst tun. Und dass sie dabei möglicherweise zu einem anderen Ergebnis kommen werden.
Der Wunsch nach Zugehörigkeit gehört bei vielen psychologischen Modellen zu den Grundbedürfnissen der Menschen. Einige brauchen davon mehr, andere weniger. So gut wie alle brauchen wenigstens ein bisschen Zugehörigkeit.
Aber Zugehörigkeit ist nicht das Gleiche wie Auflösung. Gruppen mit stabilen Persönlichkeiten können bestehen, auch wenn sich ihre Mitglieder nicht in allem einig sind. Es ist vollkommen okay, Reibungspunkte zuzulassen. Sie können Spaß machen. Sie erlauben uns, zu wachsen. Manchmal dienen sie uns auch nur dazu, unsere eigene Position zu schärfen. Thesen zu testen. Wir erleben diese heterogenen Gruppen in Nachbarschaften, in Vereinen, am Arbeitsplatz. Im Internet sind sie schwer zu finden.
Damit wir uns wohlfühlen, sind zwei Faktoren unerlässlich: Die Gruppe muss neue Gedanken aushalten. Und wir selbst müssen uns mit uns selbst so wohlfühlen, dass wir uns trauen, Gedanken, Gefühle, Positionen auch auszusprechen. Das erreichen wir, wenn es uns gelingt, beim Nachdenken mal so zu tun, als sei nur die eigene Meinung relevant – wenigstens für den Moment.
Wenn niemand dir reinreden würde, was würdest du denken?
Was würdest du fühlen?
Und was würdest du sagen, wenn du nur mit dir selbst diskutieren müsstest?
In dieser inneren Ich-Position liegt die unendliche gedankliche Freiheit. Wir nehmen sie ein, wenn wir unter die Dusche gehen. Und vermutlich nur noch dort. Ja… vermutlich ist die Dusche der letzte Ort auf dieser Welt, an dem wir uns selbst wirklich nahe sind. Und das nur, weil Smartphone-Displays nicht so gut funktionieren, wenn sie nass sind. Unter der Dusche haben wir Ruhe vor der Welt. Und wir hören uns selbst wieder.
Wenn du nah bei dir bist, dann bist du eigene Blase. Du bist dir selbst eine gute Freundin. Geh raus aus der Dusche und nimm dir Zeit dafür. Und schau, was du selbst sagst. Das ist mehr als Achtsamkeit. Es ist aktive Achtsamkeit. Du hörst dir zu, du fragst nach, du hörst dir wieder zu. Du bist deine eigene Blase, aber eine, die auch andere reinlassen kann. Weil sie, anders als die fragilen Blasen der homogenen Gruppen, ihre innere Stabilität gefunden hat. Und du nimmst dich selbst ernst, wie ich das im ersten Schritt schon benannt hatte.
3. Du musst dich an deine Lebenserfahrung gewöhnen
Es gibt diese Dinge, an die denken wir nicht gern. Streit, Verlust, öffentliche Demütigungen. Widerstände, Beleidigungen. Herabwürdigungen. Geringschätzung. Wir gehen so durchs Leben und manchmal sieht’s ein bisschen langweilig aus, aber tatsächlich lässt es Narben zurück. Bei einigen mehr, bei anderen weniger. Einige schmerzen über Jahrzehnte, andere verblassen zu feinen Linien.
Und diese Unterscheidung können wir steuern. Wie wir unsere Wunden pflegen, entscheidet darüber, was die Narben später mit unserem Schutzschild machen. Und wie wir unsere Narben pflegen, entscheidet darüber, wie dehnbar sie sind, wie glatt oder wie wulstig, wie starr oder wie weich.
Bei Traumata und Erfahrungen, die das Leben einschränken, ist professionelle Betreuung immer die beste Lösung. Andere Dinge gehen wir selbst an. Ich habe in der vergangenen Woche, in Folge 38, mit der Sachbuch-Expertin Petra Seitz über Gelassenheit und Loslassen gesprochen, falls du Interesse an dem Thema hast.
Für den Moment ist wichtig, dass unsere Erfahrungen uns zu Menschen machen.
Also hör auf, nach Alternativen zu suchen. Hör auf, nach Erleichterung zu suchen, nach Erlösung, nach einem Grund für Vergebung – ob in dir oder in anderen. Langfristig leiden Menschen stärker darunter, dass sie negative Emotionen immer wieder füttern, als an dem, was wirklich passiert ist.
Die Biografie formt den Charakter stärker, als jeder noch so kluge Experte es könnte, jedes Instagram-Slide, jedes neue Konzept. Das bedeutet nicht, dass wir die Narben lieben lernen müssen. Ich halte das für übertrieben. Das bedeutet aber, dass wir akzeptieren dürfen, dass wir die Vergangenheit nicht ändern können. Oder müssen. Es liegt nicht in unserer Macht und es liegt auch nicht in unserer Verantwortung, die Geschichte umzuschreiben. Alles, was wir tun können, ist anerkennen, dass die Vergangenheit so war, wie sie war. Und dass einiges – oder vieles – davon nicht hätte passieren sollen, dass es nicht fair war. Aber es ist passiert. Es wird sich niemals ändern. Es ist passiert, es ist Teil der Geschichte.
Das ist die Freiheit, die es bringen kann, uns selbst zu fühlen. Es ist eine Freiheit, die wehtun kann. Aber du nimmst dich selbst ernst. Du erlaubst dir, mit deinen Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen deine eigene Blase zu sein. Und du akzeptierst die Dinge, die dich zu diesem Menschen gemacht haben, der du bist.
4. Vielleicht musst du erst einmal nur so tun, als wärst du du.
Eine der spannendsten Lebensweisheiten überhaupt ist „Fake it till you make it“. Wenn du ungefähr so alt bist wie ich, dann hast du diesen Satz vermutlich von Heidi Klum gehört, als du Anfang der 20er warst und dir abends fragwürdige TV-Shows ansahst. Klum kam nach New York und sollte ein Model sein. Sie war aber keins und sie fühlte sich auch nicht wie eines. Also übte sie in ihrem schäbigen Appartement das Laufen und tat einfach so, als wäre sie ein Model. Wie das ausgegangen ist, wissen wir ja: Sie wurde ein Weltstar und ist es noch.
Diese Strategie ist gar nicht blöd. Denn oft genug haben Menschen Angst, sie selbst zu sein. Sie werden auch auf Widerstände stoßen, denn wer sich anderen gegenüber immer brav fügsam verhalten hat, der stößt sie vor den Kopf, wenn er es plötzlich bleiben lässt. Also sieh das als kleine Übung im Schauspiel: Sei, wie du sein möchtest. Und dann spür, wie es sich anfühlt. Tu einfach mal so, als wärst du du. Und tu für einen Moment so, als sei es einfach nicht dein Problem, dass andere sich erst an das neue Du gewöhnen müssen. Es ist nicht deine Verantwortung, dich ständig um andere zu kümmern.
Und sag jetzt ja nicht Aber,… Es gibt kein Aber. Deinen Eltern, deinem Partner oder deiner Partnerin gegenüber, deinen Kindern, all diesen Menschen gegenüber, denen du dich verpflichtet fühlst, hast du dich nie verpflichtet, ein Mensch zu sein, der du nicht bist. Es gibt im Leben kein Gewohnheitsrecht. Übrigens gibt es auch in sehr vielen Rechtsgebieten kein Gewohnheitsrecht, aber das einmal beiseite.
Alle Menschen haben ein Recht darauf, sich zu verändern. Das hat einen Einfluss auf andere, natürlich. Es ist unangenehm, wenn sich ein gewohnter Mensch plötzlich anders verhält. Es zwingt auch andere zu Anpassungsprozessen. Es zwingt sie zu Wachstum. Das wird Widerstände auslösen. Aber diese Widerstände gehören an ihren Platz und ihr Platz ist am Rand. Dieser Punkt ist entscheidend. Die Widerstände, auf die Menschen stoßen, wenn sie sich sich selbst nähern wollen, sind nicht der Kern dessen, was gerade passiert. Der Kern ist weiterhin, dass ein Mensch sich auf den Weg gemacht hat, zu sich selbst zu finden. Und das ist gut. Das ist wichtig. Und das ist es Wert, ein paar Dinge auszuhalten.
5. Du musst dich an deine Beweglichkeit gewöhnen.
Wenn du näher bei dir bist, achtsamer mit dir umgehst und dir selbst mehr vertraust, dann integrierst du dich in dir selbst. Du wirst flexibler und stabiler gleichzeitig. Und das ist erst einmal ganz gut. Und nein, das wird nicht für immer anhalten. Nichts hält für immer. Kein Wohlbefinden ist von Dauer. Aber darum geht es im Leben auch nicht. Es geht darum, dass wir in der Lage sind, schneller gegenzusteuern, wenn es bergab geht. Wir leben in einer Gesellschaft der Massenhaltung. Aber das Massendenken, Massenfühlen, das gerade so en vogue ist, ist Gift für diese Gesellschaft.
Wenn du dich an dich selbst gewöhnt hast, dann wird es sich selbstverständlich anfühlen, du zu sein. Und das gilt auch für die anderen: Sie werden sich an dich gewöhnen. Und das müssen sie auch. Es gibt kein Recht in dieser Welt, das dich davon abhält, du zu sein. Und bis du bei dir angekommen bist, ist es vollkommen okay, ein paar Dus auszuprobieren. Viele Menschen haben sich selbst so lange nicht mehr gehört, dass es kein Wunder ist, wenn sie sich zunächst nicht richtig verstehen.
Das alles verlangt nach einer gewissen inneren Stärke. Und diese Stärke haben Menschen nicht, die schon viele Jahre nicht mehr auf sich selbst gehört haben. Dazu kommt: Wir leben in einer Zeit, in der Stärke viel zählt. Aber Stärke ist immer relativ, sie basiert darauf, dass andere Menschen schwächer sind. Und in dem Moment, in dem wir die anderen aus der Gleichung nehmen, ist das plötzlich kein Problem mehr.
Nicht mehr. Weniger
Es geht im Leben nicht darum, immer mehr zu machen, immer weiter zu gehen, höher zu springen und schneller zu laufen, um endlich bei sich selbst anzukommen.
Es geht im Leben nur darum, stehen zu bleiben und die Wahrnehmung nach innen zu richten. Nicht die ganze Zeit. Aber lange genug, um auch mal wieder ein Gefühl dafür zu kriegen, was für ein Mensch da eigentlich drin steckt.
Vielleicht klappt das, wenn du jeden Abend ein paar Minuten findest, um einfach nur die Augen zu schließen und auf die Gedanken zu warten, die da kommen. Ich mache das übrigens, während ich meine Tochter ins Bett bringe und warte, bis sie einschläft. Und ich frage mich immer wieder:
Wie finde ich das?
Wie finde ich das wirklich?
Betrifft mich das?
Oder, ganz ehrlich: Betrifft mich etwas vielleicht auch einfach mal nicht?
Was von diesem Tag ist mir wirklich wichtig?
Was ist an diesem Tag passiert, das mich wachsen lässt?
In der Masse der Themen, die jeden Tag auf uns einprasseln, sind wir es gewohnt, betroffen zu sein, wütend zu sein, eine Meinung zu haben – die richtige Meinung zu haben. Und natürlich gerät dabei aus dem Blick, was wirklich für das Individuum zählt. Das bedeutet nicht, dass wir nicht wütend sein sollten über das, was in der Welt geschieht. Aber viele Menschen haben nicht die Kraft, über alles wütend zu sein, Lösungen für alles zu suchen, sich zu engagieren. Sie verteilen ihre Aufmerksamkeit schon so gut es eben geht, aber sie vergessen, sich selbst einen Teil davon zuzuweisen.
Moderne Menschen sind es so sehr gewohnt, eine Masse zu sein, dass sie gar kein Gefühl mehr dafür haben, nur ein Ich zu sein. Ein einzelnes, kleines. Ein Ich, dem auch mal Dinge egal sein dürfen. Ein Ich, das auch mal die Augen schließt und keine Lösung hat. Oder keine Meinung. Oder eine abweichende Meinung. Ein Ich, das gehört wird, wenn es etwas nicht möchte.
Wir kennen das aus der Kinderpsychologie: Wenn ein kleines Kind immer wieder erfährt, dass es nicht gehört wird, dann wird es sich irgendwann in sich selbst zurückziehen. Es wird sich nicht mehr äußern, abgesehen von gelegentlichen Ausbrüchen.
Etwas ganz Ähnliches tun wir mit uns selbst, wenn wir uns immer wieder signalisieren, dass wir uns selbst nicht zuhören. Dass wir uns selbst keine Stimme geben. Wir gewöhnen uns daran, nicht wichtig zu sein. Und genau das muss sich ändern. Jeder Mensch hat das Recht, sich selbst eine Stimme zu geben. Wer sollte es denn auch sonst tun?
Viel zu lange hat diese Gesellschaft – gerade für Frauen – das Ideal der Selbstlosigkeit hochgehalten. Aber wer lernt, dass nur Selbstlosigkeit mit Liebe bezahlt wird, der muss sich selbst loslassen. Es wirkt wie der einzige Weg, zu überleben. Glennon Doyle schreibt in „Ungezähmt“ (Rowohlt Polaris): „Wir brauchen nicht noch mehr selbstlose Frauen. Was wir brauchen, sind mehr Frauen, die sich der Erwartungen der Welt so gründlich entledigt haben, dass sie bis zum Rand mit sich selbst gefüllt sind.“
Und das ist schwer und das fühlt sich unglaublich unsicher an. Aber wenn wir uns erlauben, uns mit uns selbst zu füllen, gewinnen wir Sicherheit. Bei sich selbst zu sein, sich selbst zu kennen und sich selbst als verlässlich zu erleben, darin liegt ja die größte Sicherheit des Lebens. Und übrigens auch die Freiheit. Und wenn wir dieses Ziel von allen Normen, Erwartungen und Unsicherheiten befreien, dann stellen wir fest, dass wir anderen nichts Böses damit tun.
Es schadet niemandem, wenn ein Mensch sich gut kennt und zu sich selbst hält. Es hat mit all den anderen nämlich gar nichts zu tun. Es geht nur darum, sich selbst zu fühlen. Dazu haben wir alle jedes Recht dieser Welt.
Mehr zum Thema? Bitte hier entlang zu meinem Konzept darüber, wie wir Gelassenheit besser integrieren. Oder du hörst dir die Folge über Zeiten an, in denen nichts funktioniert.
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